Internationale Auszeichnung für die neue ständige Schausammlung im GrazMuseum
Das Ausstellungskonzept von "360° GRAZ | Die Stadt von allen Zeiten" wurde Ende Oktober 2012 bei einer "Case-Study-Competition" im Rahmen der Konferenz des ICOM-Komitees CAMOC – Commitee for the Collections and Activities of Museums of Cities in Vancouver mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
Anlässlich dieser Auszeichnung wurde das GrazMuseum eingeladen, das Ausstellungskonzept im aktuellen CAMOC Newsletter ausführlich vorzustellen:
Die neue ständige Schausammlung
Historische Ausstellungen „erzählen“ entlang von erhaltenen Relikten der Mehrheitskultur die Geschichte von Ländern, Regionen oder Städten. Sie machen uns „vertraut“ mit bestimmten Aspekten der Geschichte. Dies war grundsätzlich auch die Aufgabe bei der Konzeption der Ständigen Schausammlung des Graz-Museums, nur sollte sie nicht naiv bewerkstelligt werden, als könne man das Hegemoniale von Sammlungen, also z.B. die gravierenden Lücken hinsichtlich jüdischer, evangelischer, hinsichtlich Sozial- oder Frauengeschichte einfach vernachlässigen, als könne man auf das Sprechende von Exponaten sich jedenfalls verlassen, als könne man die Geschichte der Objekte auf ihrem Weg ins Museum, in dem sie ja grundsätzlich nichts verloren haben, ausblenden
Stadtmuseen leiden nicht selten, wie Nietzsche sagen würde, an der „historischen Krankheit“, sie leiden an den „Ausschweifungen des historischen Sinns“. Wer dergestalt der Historie verhaftet bleibt, verliert, wie wir von Nietzsche wissen, die „plastische Kraft“, mit der er die Gegenwart zu formen vermag. – Wo hat der kritische Gebrauch der Historie bei der vorherrschenden Geschichtsgemütlichkeit noch Platz?
Drei Fragen
1. Sind wir im Umbau unserer historischen Museen deshalb so ratlos, weil wir wissen, dass es kein Zurück zum Historismus des 19. Jahrhunderts mit seinem auf den Staat und die politischen Eliten fokussierten Fragerastern gibt? Wir können nicht zu einem fest umrissenen „ewigen“ Bild der Vergangenheit zurückkehren. „Die Geschichte“ hat sich spätestens seit Jacob Burckhardt im „Geschichtlichen" aufgelöst, wobei gleichermaßen das globale Kontinuum der Geschichte aufgebrochen wurde. Dabei hat schon Lucien Febvre in seinem Konzept einer „histoire totale“ die Chance der regionalen/lokalen Museen umrissen, indem er schrieb, er habe „immer nur ein einziges Mittel gekannt, um die große Geschichte richtig zu erfassen und richtig zu verstehen. Es besteht darin, zuallererst von Grund auf und in ihrer gesamten Entwicklung nach über die Geschichte einer Region, einer Provinz zu verfügen.“
2. Haben wir in unserer Museumspraxis, insbesondere in der „Erzählweise“ von historischen (Dauer-)Ausstel- lungen adäquate Antworten auf die „dekonstruktivistischen“ Gedanken über Historik im 20. Jahrhundert gefunden? Wie gehen wir mit der von Michel Foucault konstatierten „Diskontinuität“, den Brüchen, Lücken und Schnitten in der Tradierung historischen Wissens, den Leerstellen und Absenzen in der historischen Begründung um?
3. Wie kann es einem regionalen oder kommunalen Museum für Geschichte heute gelingen, durch Sam- meln, Bewahren und Präsentieren von Zeugnissen der Vergangenheit den „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ abzuwehren und dem Verschwinden des Realen durch die Überzeugungskraft des Originals in überzeugender Kontextuierung entgegenzuwirken? Und wie können wir dem ortlos gewordenen Wissen wieder einen realen Ort geben?
Polyphonie der Geschichte
Resultierend aus diesen Vorüberlegungen unterscheidet sich die Anordnung der rund 115 Exponate von „360° GRAZ | Die Stadt von allen Zeiten“ formal und inhaltlich sehr deutlich von üblichen musealen Präsentationen, vor allem von Dauerausstellungen in (kultur-)historischen Museen. Der eindeutige Gang durch die Geschichte mit dem alles überblickenden, einstimmigen (monodischen) Erzähler (aus dem Audio-Guide) wird ersetzt durch die Wahlfreiheit der Besucherinnen und Besucher, die ihre jeweils eigene Lesart der vielstimmigen (polyphonen) Geschichte von Graz suchen und finden können.
Den Besucher/-innen öffnet sich eine Art themenorientiertes Schaudepot der vielen Wege. So können sie zum Beispiel wählen zwischen der Konzentration auf eine multiperspektivisch dargestellte Epoche, etwa das 19. Jahrhundert, dem Gang durch die Grazer Geschichte entlang einer vielteiligen, dynamisch gedachten Stadtentwicklungs-Morphologie (Rainer Rosegger und Joachim Hainzl) oder der „Politischen Physiognomie der Stadt“ (Fotografien von Wolfgang Thaler). Ebenso ist auch der Besuch der Ausstellung entlang von Längsschnitthemen möglich.
Vier Länsschnitt-Themen
„360GRAZ | Die Stadt von allen Zeiten“ gibt dem Druck des Hegemonialen der herkömmlichen Museumssammlung nicht nach und versucht, die Lücken und Leerstellen in der materiellen wie auch historiografischen Überlieferung hinsichtlich Geschlechtergeschichte, Geschichte der sogenannten unterbürgerlichen Schichten, hinsichtlich des Verhaltens der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem „Anderen“, dem Fremden, zu füllen oder deutlich zu machen.
Zwei Längsschnittthemen betrachten die Stadtgeschichte unter Berücksichtugung hegemonialer Gesichtspunkte:
• Die Gestalt der Stadt, der architektonisch-topografische Aspekt
• Das stadtbürgerliche Projekt, von der „Geburt des Bürgers“ in der mittelalterlichen Stadt bis zum „Wutbürger“ der Volksbefragungen.
Ergänzt werden diese um zwei nicht-hegemoniale Themen:
• Das Eigene und das Fremde, wie ging man in allen Jahrhunderten mit den "Fremden“ um
• Die feinen Unterschiede (Joachim Hainzl und Eva Taxacher) Geschlechtergeschichte und soziale Fragen.
Diese vier für das Leben in Städten grundlegenden Fragestellungen finden sich unverändert in allen vier Epochenräumen der Ausstellung wieder.
Vier Epochenräume
Die Stärken der Sammlung des GrazMuseums liegen in der Zeit vor 1800. Die neuere Geschichtsdidaktik betont hingegen die Zeit nach der Französischen Revolution und geht auf das „lange Mittelalter“ oder die Antike nur kursorisch ein. Dementsprechend vollführt die neue Schausammlung „360GRAZ | Die Stadt von allen Zeiten“ gegenüber der Vorgängerin eine wesentliche zeitliche Akzentverschiebung in Richtung Gründerzeit und die beiden Weltkriege.
Die Zeiträume in den vier Schausammlungsräumen sind:
• Stadtgründung bis 1600, Stadtgründung, Lebensmodell Civitas, Konfessinalisierung bis Protestantenausweisung
• 1600 bis 1809, katholischer Triumph, Reform von oben (Aufgeklärter Absolutismus), Napoleon und Graz
• 1809 bis 1914, steirische Reform bis zur Jahrhundertwende
• 1914 bis heute, erster Weltkrieg, Faschismen, Nachkriegszeit.
Das selbstreflexive Museum
Die Ständige Schausammlung soll also auch die fragwürdige Institution Museum mit darstellen und den Vorgang, in historischen Ausstellungen mittels Objekten die „Geschichte aufzuräumen“. Die in der neuen Ständigen Schausammlung gezeigten Objekte sind grundsätzlich fremd innerhalb der Museumsräume und sie sind grundsätzlich fremd zueinander. Ihr neuer Verwendungszusammenhang ist den klassischen Museumsaufgaben geschuldet: dem kritisch auswählenden Sammeln von bedeutsamen Objekten, der vertieften wissenschaftlichen Interpretation, der Präsentation in den Ausstellungsräumen und der Vermittlung ihrer Bedeutungen an ein Publikum unterschiedlichsten Bildungshintergrunds.
Das gesamte Display (Gestaltung „arquitectos“, Wien) ist ein offenes Angebot, das die Institution Museum einer selbstreflexiven Betrachtung unterzieht. Mit seinem zeigenden Gestus verweist das vorwiegend im Raum verspannte Museumsgut auf den musealen Kontext des lückenhaften, hegemonialen Sammelns, des weltanschaulich determinierten Interpretierens und nicht zuletzt auf den Akt des verfremdenden Präsentierens und Kontextuierens.
Objektkompetenz des Museums
Demgemäß wird jedes Exponat durch einen Kommentar aus einer historisch-kritischen Perspektive interpre- tiert und in den Kontext anderer Ereignisse, Zustände, Entwicklungen sowie in gesamtgesellschaftliche Kontexte gestellt. Die Objekte, zu denen auch die heute noch vorhandenen Gebäude der Stadt als „Zeugen“ ihrer Geschichte gehören, werden damit repolitisiert. Diese Exponate und abgebildeten Gebäude etwa nur kunsthistorisch zu deuten, würde wesentliche Verwendungszusammenhänge unterschlagen anstatt die politische Physiognomie der Stadt Graz nachzuzeichnen.
Die besondere Objektkompetenz des Museums wird ausgestellt, indem Exponate wie beispielsweise alte Gemälde nicht allein als Lieferanten von Bildinformationen fungieren, sondern auch als Körper am konkreten Ort Museum begriffen und gezeigt werden. So erzählen die Rückseiten und Unterseiten der Exponate mitunter eine lange Provenienzgeschichte, die durch die Präsentationsform innerhalb der Ausstellung sichtbar wird.