Stationen in Sofia, Graz, Wien
1906 in St. Petersburg, im zaristischen russischen Reich, als Anna Lülja Simidowa geboren, wuchs sie in Bulgarien auf. Ihre Mutter war Gynäkologin, ihr Vater Verleger in Sofia. Österreich und Bulgarien hatten nach dem Ersten Weltkrieg gute Beziehungen, weshalb sie sich 1924 für eine Architekturausbildung in Graz entschied. Sie war die erste Frau, die das Hochbaustudium an der Grazer Technischen Hochschule (TH), wo erst seit 1919 Frauen als Studierende zugelassen waren, inskribierte. Nach längeren Unterbrechungen legte sie 1930 die erste, 1939 dann die zweite Staatsprüfung ab, womit sie – nach Herta Frauneder (verh. Rottleuthner) – die zweite Grazer Architekturabsolventin war. In dieser Zeit hatte sie Graz bereits für eine Mitarbeit im Büro von Clemens Holzmeister, dem prominenten Architekten des austrofaschistischen „Ständestaats“, verlassen, bei dem sie am Wettbewerb für das Parlament in Ankara und am Projekt für das Salzburger Festspielhaus mitarbeitete.
Grazer Moderne
Ihre ersten wichtigen Erfahrungen mit Architektur und Möbelbau hat Anna Lülja Praun bereits in Graz gemacht, wo sie, mit Unterbrechungen, rund 13 Jahre lang lebte und arbeitete (ihre Entwürfe unterzeichnete sie damals mit Simidoff). Durch ihren Lehrer an der TH, Friedrich Zotter, durch Herbert Eichholzer und andere Mitglieder der Sezession Graz lernte sie, noch als Studentin, Persönlichkeiten der österreichischen Architektur, Kunst und Kultur kennen: die Architekten Ernst A. Plischke und Clemens Holzmeister, die Künstler Alfred Wickenburg und Walter Ritter, sowie auch Anna Neumann aus der Familie Feuerlöscher im steirischen Prenning, wo sich ein kreativ-intellektueller Kreis traf. Zu diesem gehörte auch ihre Studienkollegin Herta Frauneder, bei deren Familie in Bruck a.d. Mur sie oft eingeladen war.
Brisante Zeiten
Während ihrer Grazer Zeit bekam die Architektin die zunehmende gesellschaftliche Zuspitzung im Österreich der 1930er Jahre unmittelbar zu spüren. Sie kam aus einer offenen, mehrsprachigen und politisch links orientierten Familie. Kurz nach ihrem Studienbeginn war ihr Vater in Bulgarien aus politischen Gründen hingerichtet worden. 1934 wurde sie, ebenso wie der seit seiner Jugend politisch links engagierte Herbert Eichholzer, in Graz inhaftiert. Dass dieser ihr später „zu politisch geworden“ sei, war letztlich wohl der Grund, warum sie 1937 Graz Richtung Wien verließ. Nach dem „Anschluss“ kam sie wegen ihrer Beziehung zu Eichholzer kurzfristig in Gestapo-Haft (er war damals bereits geflüchtet, wurde nach seiner Rückkehr in die „Ostmark“ jedoch wegen seiner Widerstandstätigkeit von den Nationalsozialisten ermordet) und wurde in der Folge zeitweilig am Abschluss ihres Studiums gehindert.
Eigene Projekte im Atelier Eichholzer
Rund zwei Jahre lang, 1936/37, vielleicht auch schon 1935, arbeitete sie mit Eichholzer zusammen. Sie plante an einem Hotel in Liezen, auch äußerst bemerkenswerte Skizzen zu einem modernen Ausflugsrestaurant auf der Ries nahe Graz sind bekannt. Entwürfe für das Kaufhaus Kitzinger im obersteirischen Öblarn sowie für die Wohnung der Familie Kastner (Kaufhaus Kastner & Öhler) sind erhalten. Der einzige heute bekannte Fall einer Serienproduktion aus der Grazer Zwischenkriegszeit stammt von ihr: die im Sommer 1936 entworfene Typenmöbel-Serie „Joanneum“, zu deren Ausführung es jedoch nicht gekommen zu sein scheint. Dafür geplant war eine sparsame Grundausstattung für eine Kleinwohnung, praktische, einfache und billig herzustellende Möbel wie Bett, Nachtkästchen, Kasten, Tagbett, Tisch oder Geschirrschrank.
Kriegs- und Nachkriegsjahre
Während des Zweiten Weltkriegs heiratete Anna Lülja den Architekten Richard Praun, der ebenfalls Mitarbeiter bei Clemens Holzmeister gewesen war, aus einer Tischlerfamilie stammte und bei Oskar Strnad an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert hatte. Nach mühevollen, in Bulgarien und im steirischen Kindberg verbrachten Kriegsjahren übersiedelte sie endgültig nach Wien. Nach der Trennung von ihrem Mann zog sie ihre Tochter alleine groß und führte ihre Arbeit ab 1952 eigenständig weiter. Sie entwarf Wohnhäuser, vor allem aber Wohnungs- und Geschäftsinterieurs und Möbel. Neben der freiberuflichen Tätigkeit arbeitete sie im renommierten Einrichtungshaus Haus & Garten mit, wo auch einige ihrer eigenen Möbelentwürfe verkauft wurden, etwa der elegante, leichtfüßige F.L.P.-Sessel (1955), entworfen zur Serienproduktion und heute nicht zuletzt deshalb eines ihrer bekanntesten Werke.
Wiener Möbeltradition
Ihre Produkte waren jedoch meist exquisite, vielfach maßgefertigte Einzelstücke, speziell auf die Persönlichkeiten der ebenso finanzkräftigen wie ihren Vorstellungen gegenüber aufgeschlossenen Auftraggeber:innen abgestimmt, mit denen sie oft auch befreundet war. So arbeitete sie für den Komponisten György Ligeti, den Pianisten Alfred Brendel und die Keramikerin Gudrun Baudisch, für Ärzte sowie Unternehmer wie den Rennfahrer und Autohändler Wolfgang Denzel, für den sie neben einer Wohnung auch eine Yacht einrichtete, oder für die Stahlwerke Schöller-Bleckmann. Sie entwarf flexibles, gut nutzbares Mobiliar mit besonderer Aufmerksamkeit für das Detail, zollte dabei den Handwerkern, mit denen sie arbeitete, höchsten Respekt und verwendete Materialien wie kostbare Hölzer, Leder, Stahl, Silber oder Messing, auch Alpaka, Halbedelsteine oder Plexiglas.
Viele, die Anna Lülja Praun in späteren Jahren erlebt haben, hoben ihre Gastfreundschaft und ihre Förderung junger Kollegen, etwa der Architekten der "Arbeitsgruppe 4", besonders hervor. Ab den 1980er Jahren wiederentdeckten und interviewten Architektinnen und Autorinnen (Felicitas Konecny, Judith Eiblmayr, Lisa Fischer, Martina Kandeler-Fritsch) sie und publizierten ihr Werk. Im hohen Alter wurde sie mit Preisen ausgezeichnet und erhielt 2002 das Ehrendoktorat der TU Graz. Sie verstarb 2004 in Wien.