18/04/2025

Frida Grahn ist gelernte Architektin und praktizierende Architekturhistorikerin. Die Rezeption der Postmoderne in der Schweiz wurde zum Thema Ihrer Doktorarbeit, eine Wahl, die sie mit einer besonders interessanten Persönlichkeit zusammenbringen sollte, mit Denise Scott Brown. Ihr hat sie ein Buch gewidmet. Wir haben Frida Grahn zum Gespräch getroffen.

18/04/2025

Frida Grahn Foto: Carl C. Paatz
 

Frida Grahn: Denise Scott Brown, In Other Eyes, Bauwelt Fundamente: Portraits of an Architect Foto: Lynn Gilbert
 

Das erste Treffen mit Denise Scott Brown, Wissahickon Avenue, Philadelphia, 2019 Foto: Carl C. Paatz
 

The Architectural Archives, University of Pennsylvania, Philadelphia, 2021 Foto: Frida Grahn
 

Denise Scott Brown in der Wüste von Las Vegas, abseits des Strip, 1966. Foto: Robert Venturi. Mit freundlicher Genehmigung von Denise Scott Brown.
 

Ein Kanal in Venedig, 1956 Foto: Denise Scott Brown. Mit freundlicher Genehmigung von Denise Scott Brown.
 

South Street, 1960er Jahre Foto: Denise Scott Brown. Mit freundlicher Genehmigung von Denise Scott Brown.
 

Woher kommt Ihr Interesse für Architektur? 
Das Architekturstudium sah ich als Möglichkeit, verschiedene Interessensbereiche miteinander zu verknüpfen, mein Interesse an Ästhetik, an Architekturgeschichte und gesellschaftlichen Fragen. Fast neun Jahre lang habe ich dann als Architektin gearbeitet, aber irgendwann gespürt, dass das Entwerfen nicht meine größte Stärke ist.

Und worin erkannten Sie Ihre Stärke? 
Mehr und mehr wurde mir bewusst, dass ich mich beim Schreiben viel freier fühlte. Planzeichnen oder Baustellenüberwachung waren nie meine liebsten Beschäftigungen. Schreiben gefällt mir, denn es erlaubt mir, in Ruhe Dinge präzise zu überdenken und eine fundierte Meinung zu formulieren.

Seit Längerem widmen Sie sich der Rolle der Frau in der Architektur. Was hat Sie dazu veranlasst?
Ich bin in Schweden aufgewachsen, wo Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit ist und das Bewusstsein dafür oft noch ausgeprägter. Feministische Fragen haben mich daher schon immer beschäftigt. Feminismus ist für mich Teil eines größeren gesellschaftlichen Wandels, der seit der Nachkriegszeit in Bewegung ist. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Gerade heute, wo Gleichberechtigung auf globaler Ebene zunehmend infrage gestellt wird, ist es umso wichtiger, sich für Gerechtigkeit einzusetzen.

Wo sehen Sie die Probleme?
In unseren Köpfen, sie zeigen sich in unseren Gefühlen. Letztlich geht es darum, dass sowohl Frauen als auch Männer das weibliche Geschlecht oft geringer wertschätzen. Diese Mechanismen wirken meist auf einer unterbewussten Ebene und sind tief verankert. Es erfordert viel Arbeit, ihnen entgegenzuwirken. Der erste Schritt ist, bei uns selbst anzufangen und uns diese Probleme endlich offen einzugestehen.

Wie kam es zu Ihrer Beschäftigung mit der Architektin Denise Scott Brown? 
In meiner Forschung betrachte ich vor allem die Gegenwartsgeschichte und Architektur seit 1968, im speziellen der postmodernen Epoche. Als ich vor zehn Jahren mit meinen Recherchen begann, ging es um die Fragestellung „Gab es die Postmoderne in der Schweiz überhaupt?“ Dies war stark umstritten. Schnell erkannte ich die Bedeutung des Themas in Bezug auf Aldo Rossi. Doch obwohl er heute oft mit der Postmoderne in Verbindung gebracht wird, wurde er damals nicht eindeutig dazugezählt. Die Postmoderne wurde in der Schweiz vor allem als angelsächsisches Phänomen betrachtet – mit Robert Venturi und Denise Scott Brown als zentrale Vordenker:innen. So begann ich, mich mit Venturi und Scott Brown zu beschäftigen, um herauszufinden, inwiefern ihre Ideen rezipiert wurden. Dabei wurde mir klar: Während Venturi durchaus Beachtung fand, wurde Scott Brown meist übersehen oder diskriminiert. Ich bemerkte, dass zu ihrer Person eine große Forschungslücke klaffte.

Und wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit dem Birkhäuser Verlag?
Durch meine Forschung habe ich eine der Herausgeber:innen der Bauwelt Fundamente Reihe kennengelernt, die mir von ihrem Interesse für Scott Brown erzählte und von ihrem Wunsch nach einem ihr gewidmeten Band. Parallel zu meiner Dissertation habe ich dann ein Konzept ausgearbeitet und mich intensiv mit Scott Brown befasst.

Ein großes Glück, dass Sie mit ihr persönlich in Kontakt treten konnten.
Denise Scott Browns Interesse daran war eine besonders große Freude. Ich hatte sie zuvor bereits einige Male interviewt, doch nun entwickelte sich ein intensiver persönlicher Austausch, oft über Videoanrufe. Es war großartig, dass sie das Buchprojekt in gewisser Weise mitgestalten konnte. Zwar stammten das Konzept, die thematische Struktur und die Auswahl der Beiträge von mir, aber Denise hat weitere Leute vorgeschlagen, etwa einen ihrer Studierenden oder eine ehemalige Mitarbeiterin. Denise steuerte sogar einen eigenen Text bei. Unsere zahlreichen Gespräche über zwei Jahre waren unglaublich bereichernd und wertvoll für das Buch.

Eine gleichberechtigte Partnerschaft in Architekturbüros ist heute selbstverständlich. Für Robert Venturi und Denise Scott Brown war das längst nicht so. Auch der Pritzker Preis etwa wurde ihm allein zuerkannt. 
Die Zusammenarbeit als Architekt:innen und als Paar birgt Vor- und Nachteile, auch Risiken, wie das Beispiel von Denise Scott Brown zeigt. Ihre Ideen wurden über Jahre hinweg fälschlicherweise als die ihres Mannes interpretiert. Absurderweise übersah man, wie viel sie unter ihrem eigenen Namen publizierte. Sie schrieb unzählige Artikel, war hochengagiert und ständig am Veröffentlichen – doch am Ende wurde alles Venturi zugeschrieben. Es war Venturis Las Vegas und Venturis „Ente“. Den Pritzker Preis erhielt er unter anderem für die Entdeckung der Alltagswelt der USA als Inspirationsquelle für die Architektur – dabei stammte dieser Gedanke maßgeblich von Scott Brown.

Wie konnte Venturi das mit seinem Gewissen vereinbaren, nicht darauf zu verweisen, dass der Erfolg zum Teil seiner Frau zustand? 
Immerhin erwähnte er sie in seiner Danksagung – doch das änderte nichts daran, dass die offizielle Anerkennung allein ihm zufiel.

Sie können nun in ihrem Buch einiges richtigstellen.
Ja, genau. Auch wenn viele auch heute noch behaupten, das Thema sei längst genug diskutiert und es habe ohnehin Fortschritte gegeben. Wir müssen dranbleiben. Als Architekturhistorikerin habe ich die Möglichkeit, über Architektinnen zu schreiben und ihre Leistungen ins Bewusstsein zu rücken. Denn allzu schnell fallen wir in alte Muster zurück – und dann verschwinden Architektinnen wieder aus der Geschichte, oft ganz unbewusst.

Wie wird das Thema im Rahmen der universitären Arbeit betrachtet? 
Im Jahr 2024 habe ich an der USI Accademia di architettura in Mendrisio einen Masterkurs zum Thema meiner Dissertation geleitet. Dabei ging es um formale Fragestellungen, die theoretische Grundlage der postmodernen Architektur und das Verhältnis zwischen Medien und architektonischer Praxis vor dem digitalen Zeitalter. Der Kurs bot einen umfassenden Überblick über die Schweizer Architekturdebatte der 1970er und 80er Jahre – eine Debatte, die vor allem von Männern, oft ehemaligen Lehrern der Schule, geprägt wurde. Als Ausgleich dazu habe ich so oft wie möglich über Denise Scott Brown gesprochen, zumal sie stark vernachlässigt wurde. In alten Tonbandaufnahmen oder Artikeln drehte sich alles um Venturi. Glücklicherweise werden heute beide zunehmend gleichwertig zitiert.

Dabei erfahren Ihre Student:innen auch, dass man in Zeiten der Postmoderne zur Recherche in Bibliotheken noch analog in Büchern und Manuskripten blätterte.
Ja, es war für sie spannend zu sehen, wie man sich damals ausgetauscht hat, an neue Ideen gekommen ist, wie man Bilder oder Bauwerke rezipierte. Sie haben nachverfolgt, wie sich architektonische Formen über Grenzen hinweg verbreiteten, wie Architekt:innen reisten, sich trafen und Gedanken austauschten. Vor allem aber haben sie gelernt, genau hinzusehen, zu verstehen, wie Formen entstehen, wie sie wiederentdeckt und weiterentwickelt werden können.

Wie steht es generell um die Akzeptanz postmoderner Architektur, ist sie abrissgefährdet? 
Wenn wir nicht lernen, sie zu verstehen und wertzuschätzen, könnte sie durchaus in Gefahr geraten. Der Bestand sollte schon allein aus Gründen der Nachhaltigkeit erhalten bleiben. Hier in der Schweiz wird die Postmoderne oft als willkürlich, spielerisch oder zu ironisch angesehen und damit nicht als „gute Architektur“ anerkannt. Abgerissen werden hier allerdings vor allem anonyme Bauten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Wie viel Bedeutung haben analoge Medien noch für Ihre Arbeit?
Obwohl ich digitale Forschungsmethoden nutze – etwa die gut bestückten Schweizer Onlinearchive für Zeitschriften – bleiben analoge Quellen für mich unverzichtbar. In physischen Dokumenten lassen sich oft die wertvollsten Entdeckungen machen. Wenn es noch lebende Zeitzeug:innen gibt, ist der persönliche Kontakt zudem essenziell. Diese Begegnungen eröffnen ungeahnte Wissensquellen, und wenn ihre Erinnerungen nicht dokumentiert werden, gehen sie unwiederbringlich verloren. Ein besonderes Erlebnis war für mich der Zugang zum umfangreichen Privatarchiv des ETH-Dozenten René Furer. Ich hatte das Privileg, dort viele Stunden zu verbringen, Dias zu digitalisieren und sogar Tonbänder seiner Vorlesungen aus den 1970er Jahren zu sichern. Diese Aufnahmen sind bis heute hochspannend – möglicherweise könnten sie in Zukunft auch online zugänglich gemacht werden.

Flossen diese Dokumente in Ihre Dissertation, die Sie Ende letzten Jahres abgeschlossen haben, ein?
Ja, sie fanden in meiner Doktorarbeit und finden in meiner nächsten Publikation Berücksichtigung. Das Material wäre sogar umfangreich genug für weitere Veröffentlichungen.

Interessieren sich Studierende überhaupt noch für Architekturgeschichte?
Ich empfinde, dass die Architekturgeschichte eine starke Stellung hat. Besonders gefreut hat mich, wie enthusiastisch mein Kurs zu den Ursprüngen der Postmoderne  aufgenommen wurde – das ist nicht selbstverständlich. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Rolle der Architekturgeschichte nicht immer anerkannt wird. Als ich vor über zwanzig Jahren mein Bachelorstudium in Schweden begann, habe ich selbst hinterfragt, welchen Einfluss die Architekturgeschichte auf die damalige Gegenwartsarchitektur hatte. Erst in der Schweiz habe ich die Architekturgeschichte neu für mich entdeckt. Gerade deshalb ist es mir wichtig, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen und zu vermitteln, warum Geschichte und Theorie auch für das heutige Entwerfen relevant sind.

Was gefällt ihnen an Ihrer Arbeit als Architekturhistorikerin am besten?
Die Flexibilität und Freiheit, Themen nachzugehen und Ideen zu entwickeln, die mir wichtig sind. Diese kreativen Momente genieße ich. Und die Abwechslung, sich in bestimmte Fragestellungen zu vertiefen, Erkenntnisse zu gewinnen und sie dann mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Kann KI bei der Recherche nützlich oder hilfreich sein?
Durchaus, aber nur begrenzt. KI kann bei Übersetzungen oder der Textbearbeitung unterstützen, aber ihr fehlt Kreativität und künstlerisches Feingefühl. Für eine kritische Auswertung ist der Mensch unverzichtbar.

Wie definieren Sie den Begriff der Architekturkritik?
Kritik ist für mich die Kunst des Urteilens. Architekturkritik muss subjektiv sein, nur so ist ein Urteil möglich. Es ist daher wichtig, dass im Text die Stimme der Autor:in deutlich erkennbar ist. Leser:innen müssen erkennen, dass hinter dem Text die Meinung einer Person steht. Diese kann man hinterfragen und es entsteht ein Diskurs.

Welche Aufgabe kommt denn der Architekturkritik zu? 
Ein Gebäude entspricht einer Stellungnahme, die Kritik ist die Antwort darauf. Kritiker:innen erfüllen eine Vermittlerrolle zwischen Architektur und Öffentlichkeit. Sie können die Wahrnehmung der gebauten Umwelt schärfen. Dafür braucht es sprachliche Präzision – idealerweise so, dass die Kritik auch ohne Bilder auskommt. Ebenso wichtig sind nachvollziehbare Kriterien: Was leistet das Gebäude für die Gesellschaft? Leider steht beim Bauen heute oft die Rendite im Vordergrund, nicht die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen. Das klingt etwas banal, aber genau diese Ressourcenverschwendung wollte ich als Architektin nicht mehr unterstützen.

Wenn Sie sich selbst noch eine Frage stellen würden, welche wäre das? 
Vielleicht diese: „Wie sehe ich meine Rolle als Historikerin?“ Meine Antwort: Ich verstehe mich als jemanden, die das Gedächtnis der Stadt, der Architektur und der gebauten Umwelt wachhalten möchte. Mein Ziel ist es, durch mein Wissen zur Architekturgeschichte ein tieferes Verständnis für unsere alltägliche Umgebung zu vermitteln. Ich sehe die Stadt als Freilichtmuseum – ein sich wandelndes Archiv menschlicher Kultur. Trotz gesellschaftlicher und technologischer Veränderungen bewegen wir uns in Stadträumen, die unsere Vorfahren vor Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren geschaffen haben. Das fasziniert mich. Was wir heute tun, nicht nur kulturell und immateriell, sondern auch in unserer Bautätigkeit, ist eine Fortsetzung dieser Geschichte. Dieses Bewusstsein möchte ich schärfen und so als historisches Gedächtnis wirken.

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