05/12/2024

Von der Zeit geprägt und neugestaltet. Jürgen Grossmann und sein Büro, die Grossmann Group, haben den Eiermann-Bau in Offenburg mit Respekt und Innovation behandelt.

05/12/2024

Verwaltungsgebäude Müller Stahlbau in Offenburg unmittelbar vor Beginn der Sanierungsarbeiten im Frühjahr 2022.
© Ulrich Coenen

Ehemaliges Verwaltungsgebäude Müller Stahlbau nach Abschluss der Sanierungsarbeiten im Juli 2024.
© Ulrich Coenen

Ehemaliges Verwaltungsgebäude Müller Stahlbau und Erweiterungsbau im Juni 2024. 1/2
© Ulrich Coenen

Ehemaliges Verwaltungsgebäude Müller Stahlbau und Erweiterungsbau im Juni 2024. 2/2
© Ulrich Coenen

Im Foyer des ehemaligen Verwaltungsgebäudes ist ein Graffito nach Entwurf des Architekten Jürgen Grossmann entstanden „Manchmal braucht man Eiermann“ lautet der Text.
© Ulrich Coenen

Den Licht- und Luftschacht des ehemaligen Verwaltungsgebäudes hat Jürgen Grossmann mit Pflanzen ausgestattet.
© Ulrich Coenen

In den Korridoren des ehemaligen Verwaltungsgebäudes Müller Stahlbau blieben die älteren Trennwände zum Teil erhalten.
© Ulrich Coenen

Zweischichtige Fassadenwand des ehemaligen Verwaltungsgebäudes Müller Stahlbau (Zustand Frühjahr 2022)
© Ulrich Coenen

Die originalen Fenster des ehemaligen Verwaltungsgebäudes Müller Stahlbau waren zum Teil verrottet und mussten aufwendige ergänzt werden. (Zustand Frühjahr 2022).
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Foyer des Neubaus. 1/2
© Ulrich Coenen

Foyer des Neubaus. 2/2
© Ulrich Coenen

Alt- und Neubau sind durch Stege verbunden.
© Ulrich Coenen

Praxisräume im Neubau.
© Ulrich Coenen

Die Architektur der deutschen Nachkriegsmoderne wird unweigerlich mit Namen wie Egon Eiermann verbunden. Sein funktionalistischer Ansatz, geprägt von Klarheit, Transparenz und Leichtigkeit, hat die Architekturgeschichte nachhaltig beeinflusst.

In Offenburg hinterließ Eiermann in den 1950er- und 1960er-Jahren besonders markante Spuren: Er entwarf das Verlagsgebäude von Burda Moden und später das Verwaltungsgebäude für Stahlbau Müller, das als herausragendes Beispiel seines Schaffens gilt. Kürzlich wurde dieses denkmalgeschützte Verwaltungsgebäude unter der Leitung von Jürgen Grossmann sorgfältig saniert und um einen Neubau ergänzt. Grossmanns Umgang mit dem historischen Bauwerk und seine Entscheidung, es durch einen modernen Anbau zu erweitern, bieten Anlass zu einer vertieften Betrachtung.

Eiermanns Originalbau in der Englerstraße 4a ist ein markantes Beispiel der Nachkriegsmoderne. Das fünfgeschossige Verwaltungsgebäude, ausgeführt als Stahlskelettkonstruktion, zeichnet sich durch seine geometrische Präzision und seine feingliedrige Fassade aus. Charakteristisch sind die vorgehängten Balkone, die dem Gebäude horizontale Gliederung und optische Leichtigkeit verleihen. Die Fassade vermittelt durch ihr feinmaschiges Raster-System Transparenz und eine zeitlose Eleganz, die den funktionalistischen Idealen jener Zeit entsprechen.

Als die Grossmann Group das Gebäude im Herbst 2020 erwarb, befand es sich jedoch in einem stark verwahrlosten Zustand. Die Fensterrahmen waren verrottet, die Fassade war von Schimmel befallen und der gesamte Bau wies erhebliche bauliche Mängel auf. Auch der Asbest, der bereits von Anfang an vorhanden war, stellte ein Problem dar. Anstatt den bereits vorliegenden Abrissgenehmigungen für die Fassade zu folgen, entschied sich Grossmann, das gesamte Gebäude mit Respekt vor dem baukulturellen Erbe zu sanieren. Diese Entscheidung zeugt von einer tiefen Wertschätzung für Eiermanns Werk und dessen historische Bedeutung.

Besonders hervorzuheben ist der Erhalt der charakteristischen Fensterfronten. Während die verfaulten Holzrahmen soweit möglich erhalten und größtenteils ergänzt wurden, musste das ursprüngliche Glas (die Einfachverglasung) durch moderne Doppelverglasung ersetzt werden. Auch die Asbestzementbrüstungen der Fenster blieben an der Außenseite bestehen, während auf der Innenseite moderne Platten zur Wärmedämmung hinzugefügt wurden, ohne das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes wesentlich zu verändern. Grossmanns Ansatz, möglichst viel von der originalen Bausubstanz zu bewahren, zeigt einen tiefen Respekt vor der ursprünglichen Architektur, auch wenn dieser Prozess aufwendig und kostspielig war.

Die größte Herausforderung bei der Sanierung bestand jedoch in den Anforderungen des modernen Brandschutzes. Das Fehlen eines zweiten Fluchttreppenhauses im Bestandsbau erforderte eine kreative Lösung. Grossmann nutzte diese Notwendigkeit als Gelegenheit und entschied sich für den Bau eines zweiten Gebäudekomplexes, der durch drei Stege mit dem Eiermann-Bau verbunden ist. Dieser Neubau, ein ebenfalls fünfgeschossiger Kubus mit anthrazitfarbener Putzfassade, steht bewusst in ästhetischem Kontrast zum Originalbau.

Das ursprüngliche Gebäude von Eiermann hat ein deutlich kleineres Volumen im Vergleich zum neuen Zwillingsbau. Der Neubau hat das Volumen erheblich erweitert und somit die städtebauliche Bedeutung des Areals maßgeblich erhöht. Er ersetzt die denkmalgeschützte Kantine, die vor der Übernahme durch die Grossmann Group abgerissen wurde. Das neue architektonische Ensemble bietet Platz für diverse Nutzergruppen und steigert den Wert des Grundstücks erheblich. Durch seine strategische Lage nahe dem Bahnhof im Industriegebiet fügt sich der Verwaltungsbau harmonisch in die Umgebung ein und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Revitalisierung des Areals.
Der Neubau verzichtet auf die filigrane Transparenz und Leichtigkeit des Eiermann-Gebäudes und präsentiert sich stattdessen als ein kompakter, zurückhaltender Baukörper mit einer klassischen Lochfassade. Dieses Erscheinungsbild lässt zwar den kühl kalkulierten Fokus auf Funktionalität und Wirtschaftlichkeit erkennen, doch agiert der Neubau gleichzeitig als notwendiger, aber auch eigenständiger Ergänzungsbau, der die historische Architektur respektiert, ohne in Konkurrenz zu ihr zu treten.

Es stellt sich die Frage, inwieweit der Neubau den architektonischen Ansprüchen gerecht wird, die man an ein solches Projekt stellen könnte. Während der Eiermann-Bau durch seine zeitlose Ästhetik und seine bis ins Detail durchdachte Formensprache besticht, wirkt der Neubau nüchtern und zweckorientiert. Der anthrazitfarbene Kubus fügt sich zwar harmonisch in das Ensemble ein, doch die Gestaltung der Fassade lässt eine gewisse architektonische Inspiration vermissen.

Ursprünglich hatte Grossmann geplant, die Fassade mit Klinker zu verkleiden, musste jedoch aus Kostengründen darauf verzichten. Stattdessen entschied man sich für ein Wärmedämmverbundsystem und eine Lochfassade. Diese Entscheidung mag pragmatisch und den gestiegenen Baukosten geschuldet sein, doch lässt sie den Baukörper im Vergleich zum eleganten Bestandsbau etwas uninspiriert erscheinen.

Trotz dieser kritischen Betrachtung darf nicht vergessen werden, dass der Erweiterungsbau eine notwendige Ergänzung darstellt, die den Fortbestand und die Nutzung des historischen Eiermann-Gebäudes erst ermöglicht. Der pragmatische Ansatz Grossmanns zeigt sich auch in der flexiblen Grundrissgestaltung des Neubaus, die sich individuell an die Bedürfnisse der Mieter anpassen lässt. 

Dieses Maß an Anpassungsfähigkeit ist zweifellos eine Stärke des Projekts und trägt zur langfristigen Nutzung des Gebäudes bei.
Jürgen Grossmanns Umgang mit dem Eiermann-Bau in Offenburg und der dazugehörige Neubau stellen ein gelungenes Beispiel für den sensiblen Umgang mit architektonischem Erbe dar. Während der Neubau in ästhetischer Hinsicht möglicherweise nicht die gleiche Strahlkraft besitzt wie das Originalgebäude, erfüllt er doch eine wichtige Funktion und ermöglicht die zeitgemäße Nutzung des historischen Baus. 

Grossmanns pragmatische Herangehensweise, die sich sowohl in der Sanierung als auch im Neubau widerspiegelt, zeigt eine tiefe Verbundenheit mit der Baukultur und eine beeindruckende Fähigkeit, komplexe Herausforderungen zu meistern.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Zwillingsbau in Offenburg ein interessantes Beispiel für die Verbindung von Alt und Neu ist. Er zeigt, dass der Erhalt von Architektur nicht zwangsläufig eine nostalgische Rückschau bedeutet, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte und deren Einbindung in die Gegenwart. Grossmanns Projekt ist eine gelungene Synthese aus Respekt vor dem Erbe und einem klaren Blick auf die Anforderungen der Zukunft – eine Balance, die in der heutigen Architekturlandschaft oft schwer zu finden ist.

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Im Seminar „Städtebauliche Typologien - Werkstatt Architektur-Journalismus: Wir schreiben über Architektur“ beschäftigen sich Studentinnen und Studenten an der Professur Stadtquartiersplanung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) mit Architekturjournalismus. Dozent ist der Redakteur und Bauhistoriker Ulrich Coenen.

Die zwölf Seminarteilnehmerinnen und Seminarteilnehmer (alle im Masterstudiengang) recherchieren unter Anleitung und verfassen Beiträge über Architektur, Stadtplanung und Denkmalpflege. Dabei werden verschiedene journalistischen Darstellungsformen geübt.

Ausführliche Informationen zum Dozenten und zum Seminar (unter Lehre) auf der Homepage https://ulrichcoenen.de

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