sonnTAG 212
Nicht nur zum Arbeiten, sondern auch als erweiterte Wohnzimmer werden die Gassen des Kampung genutzt. Zudem ist der Aufenthalt im Freien meist angenehmer, als in den aufgeheizten Wellblechhütten.
Aufgrund der extremen Bebauungsdichte im Kampung und dem Fehlen jeglicher Freiflächen müssen sich die Kinder etwas einfallen lassen – sie gehen in die Luft. Neben der Taubenzucht ist das Basteln und Steigenlassen von kleinen Papierdrachen ein beliebter Zeitvertreib.
Da bleibt mir doch erst einmal die Luft weg, als sich dieser verirrte Drachen in den Stromleitungen vor unserem Haus verfängt. Die Swatiska, ein asiatisches Glückssymbol.
Eine Bewohnerin legt Krupuk zum Trockner auf einer der Fußgängerbrücken über den Ciliwung aus. Krupuk sind indonesische Cracker aus Tapiokamehl, die in heißem Fett ausgebacken werden
Das Tonstudio, einige Meter von unserem Haus entfernt. Diese Jugendlichen rauben mir regelmäßig den letzten Nerv. Knatternde Mopeds, Gitarrenmusik und Gesang. Und je später die Nacht, desto mehr sind sie zugedröhnt von den überall im Kampung erhältlichen Drogen. Nach Einbruch der Dunkelheit meiden wir die Straßen.
Jugendliche haben hier kaum eine berufliche Perspektive. Zwar gibt es ein paar Jahre Schulunterricht, aber weiterführende Schulen kosten viel Geld, und die meisten Bewohner des Kampung können sich das für ihre Kinder nicht leisten. Langeweile und Frust begünstigen den Drogenkonsum.
Eine Tafel zeigt an, in welcher Nachbarschaft man sich befindet, also welcher RT und welcher RW zuständig sind. Kampungs waren früher völlig selbst verwaltet, doch wegen der zunehmend schlechter werdenden Verhältnisse in den Siedlungen (Abwasserbeseitigung, Feuerschutz, Sicherheit, Seuchengefahr usw.) wurden Mitte des 20. Jahrhunderts neue Formen der (öffentlichen) Administration eingeführt. Sie sind eine Mischform der Hinterlassenschaft des Kolonialverwaltungssystems der Holländer und dem Verwaltungssystem der japanischen Besatzungsmacht. Außerdem spielen hier die traditionell streng vertikalen Hierarchien und das indonesische Prinzip des ´Mufakat´, der Übereinstimmung in jeder Entscheidungsfindung, eine große Rolle.
Die kleinste Selbstverwaltungseinheit ist der RT (Rukun Tetangga = Nachbarschaftseinheit). Mehrere Familien in einer Straße wählen den RT. Mehrere RT wählen dann wiederum einen RW (Rukun Warga = Nachbarschaftseinheit). Zu den Pflichten der RT und RW gehören die ´Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung und die Überwachung von Bevölkerungsaktivitäten´.
Die Nachbarschaft stellt für Anlässe wie beispielsweise Beerdigungen oder politische Versammlungen Tische und Stühle in ausrechender Zahl zur Verfügung. Sie werden in speziellen Lagerschuppen aufbewahrt.
Sobald die Sonne untergeht wimmelt es auf den Straßen von kleinen Essenswagen. Am Gesang der Verkäufer können die Bewohner erkennen, was gerade angeboten wird. Für wenige Cent gibt es Fisch, Krupuk oder Säfte.
Wegen des allgemeinen Platzmangels werden Hausarbeiten, wie hier das Wäschewaschen, in den Gassen des Kampung erledigt
Einfach zusammengenagelte Sitzgelegenheiten direkt am Ufer des Ciliwung. Der Bau von jeglichen Gebäuden, näher als 20 Meter von der Wasserkante entfernt, ist wegen der Überflutungsgefahr verboten. Die Flüsse werden als Abwasserkanäle verstanden, da der Müll in den ländlichen Regionen traditionell so entsorgt wird. Was bei einer geringen Bevölkerungsdichte noch funktioniert, hat in der Stadt dramatische Auswirkungen. Der sich sammelnde Abfall bleibt im Flussbett liegen und führt in der Monsunzeit zu verheerenden Überschwemmungen. Die Behörden wissen natürlich, dass die Ufer dicht bebaut sind, schreiten jedoch nicht ein. Korruption ist allgegenwärtig. Selbst für das Errichten solch primitiver Hütten müssen die Bewohner ein Bestechungsgeld bezahlen. Darüber regt sich aber keiner auf - das ist indonesischer Alltag.
Eine der Einnahmequellen für manchen Bewohner des Kampung ist das Sammeln von Plastikabfällen zur Wiederverwertung. Eine unangenehme Tätigkeit im verseuchten Ciliwung. Während des Monsunregens ist es von Vorteil, wenn sich im Fluss möglichst wenig Abfall befindet. Er staut das Wasser und verschlimmert die Überflutungsschäden.
Am 9. September 2004 ereignet sich ein Terroranschlag auf die australische Botschaft in Jakarta und tötet mehrere Menschen, unter anderem auch den Selbstmordattentäter. Ca. 150 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Die Botschaft liegt auf meinem Weg zur Universität. Als die Bombe explodiert bin ich glücklicherweise schon bei der Arbeit, die Druckwelle der Detonation ist aber deutlich zu spüren. Während die Botschaft selbst dank baulicher Maßnahmen fast unbeschädigt bleibt, richtet die Bombe an den Nachbargebäuden enorme Schäden an.