09/03/2023

Vom Besseren Leben, 05

Kulturschaffender, Lyriker und Ausdauersportler Christoph Szalay schreibt in regelmäßigen Abständen Notizen aus dem Oberen Ennstal.

09/03/2023

in absence of

©: Ada Hauser

„Gegründet neunhundertdreiundzwanzig“, sagt Jules und:
„Sieh mich nicht an.“
Jula fährt mit dem Finger über den Bindestrich und über die Zahl dahinter, das Ende des Ortes. „Untergegangen vor ein paar Jahren“, sagt sie, und Jules nickt, Jula hat ihn vor Augen, ohne ihn anzusehen, sie erinnert sich genau. (1)

Manchmal gibt es Texte, die einen so sehr berühren und bewegen, dass es wehtut. Texte, die eine Empfindung, eine Erfahrung im Tiefinnersten auslösen, eine Erschütterung, die nicht und nie verklingt, im Gegenteil, die man an und mit sich trägt und die bei jedem Blick, bei jeder Begegnung mit den jeweiligen Zeilen und Sätzen laut wird. Texte wie Annika Scheffels' Roman Bevor alles verschwindet. Es sind die Sprache, der Klang, der Rhythmus, die Bilder, die einen mitnehmen an einen Ort, der überall und nirgendwo gleichzeitig zu sein, der jeder Zeit entschwunden scheint, ein Phantasma, eine Fantasie, ein Märchen, das gleichzeitig so unwiderruflich gegenwärtig wirkt, vor allem heute.

Jula
Später

Die Kapitel des Romans tragen Personennamen und Angaben einer Zeit, die einen Ort und dessen Geschichte*n in ein Davor und ein Danach teilen. Ein vor und nach dem Verschwinden. Annika Scheffels' Roman spricht über das Verschwinden, über den Verlust von Gewohn- und Gewissheiten, der Sicherheit, dass eine Ordnung bestehen bleibt, dass etwas bleibt.

2023 liest sich Bevor alles verschwindet wie der Text einer Gegenwart. Anders als im Roman, in dem ein Ort geplanterweise unter Wasser gesetzt, geflutet wird, um die needs und demands einer nahegelegenen Stadt nach Mehr zu stillen, ist es ebendieses, das Wasser, das aus den Landschaften verschwindet. Etwa im Lake Powell, dem zweitgrößten Stausee der USA. Aufgestaut in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts, bedeckte er eine Fläche von 650 Quadratkilometern und beinhaltet 33 Milliarden Kubikmeter Wasser. Zumindest waren das lange die Kennzahlen. Die Trockenheit der vergangenen Dekade, vor allem der letzten drei Jahre, ließen ihn auf aktuell unter 25 Prozent des originalen Füllungsgrades sinken. Damit fehlen nur mehr knapp zehn Meter (verteilt auf eine Länge von insgesamt 300 km), um die Turbinen stillzulegen und in weiterer Folge die Strom- sowie die Wasserversorgung für 4,5 bzw. knapp 40 Millionen Menschen zu gefährden. Der Zustand des Stausees lässt sich aus mehreren Gegebenheiten und Entwicklungen erklären. Der Hydrologe und Klimaforscher Brad Udall von der Colorado State University meint dazu: Wir sehen gerade eine Kollision zwischen dem Wassergesetz aus dem 19. Jahrhundert, einer Infrastruktur aus dem 20. Jahrhundert und demografischem Wandel und Klimawandel des 21. Jahrhunderts.(2) Erklären lässt sich der Zustand noch wesentlich einfacher, in der Gleichung etwa zu viel = zu wenig. Es gäbe zu viel Bedarf, bei gleichzeitig zu wenig Wasservorrat, wie Udall weiter ausführt. Ähnlich lauten die Berichte weiter flussabwärts. Auch der größte Stausee der USA, der Lake Mead, kämpft um das Wasser. Nahe an Las Vegas gelegen, liegen hier die stakes quantitativ noch höher – der See versorgt nicht nur 90 Prozent der Entertainment Capital of the World, sondern auch halb Phoenix und hält zudem ein Viertel der Wassermenge des Beckens von Los Angeles.(3) Noch dramatischer klingen die Nachrichten aus dem benachbarten Bundesstaat Utah. Dort ist der Great Salt Lake, der größte Salzwassersee der westlichen Hemisphäre, am Verschwinden. Mittlerweile sind zwei Drittel des Sees nicht mehr vorhanden, stattdessen nur mehr die Spuren eines vormals funktionierenden Ökosystems, eine Wüste, die zudem toxisch ist. Der Wind treibt die aus dem Seebeet freigelegten Giftstoffe, etwa Arsen oder Quecksilber in die Höhe und in das nahegelegene Salt Lake City, eine der am schnellsten wachsenden Städte der USA. Die drohenden Konsequenzen sind verheerend, die Zeit, ebenso, wie das Wasser selbst, knapp. Nicht nur für Erin Mendenhall, die aktuelle Bürgermeisterin, selbst aus der Aktivist*innenszene kommend, ist das eine soziale Katastrophe. Es bringt sie auch dazu, auf eine der Thematik zugrunde liegende Problematik einzugehen, eine, die am Anfang und am Ende des Verschwindens steht: Certainly the idea of a western lifestyle has to change not only for Great Salt Lake basin residents, but westerners as a whole, sagt Mendenhall in einem Interview mit dem Guardian.(4)

Lange, viel zu lange galten die Bilder von Wassermangel und Dürre als Dystopie, mehr noch, waren sie eine Zuschreibung an den Globalen Süden. Nicht zuletzt aus dieser Haltung heraus entstanden jene Schieflagen, die einen gegenwärtigen Status quo nicht nur erst möglich gemacht haben, sondern ihn weiter ausbauen. Die Realität hat die Bilder mittlerweile eingeholt, sie nicht zuletzt auch anders verortet. Die Waldbrände, die Hitze, die Dürre in Mitteleuropa im vergangenen Sommer erzählen davon. Auch dieses Jahr verläuft entlang jener Kurve, an der sich die Katastrophe*en voranschreiben. Mehrere französische Departements kämpfen seit Februar bereits mit Wassernot. So sehr, dass Verbote ausgesprochen und -geschrieben, oder Baugenehmigungen ausgesetzt werden, wie etwa nahe der französischen Mittelmeerküste.(5) Die bestimmende Farbe der Europäischen Dürrebeobachtungsstelle für Mitte Februar ist dunkelrot, genauso, wie die Aussicht auf den kommenden Sommer.

Vieles beginnt in den Alpen. Im Eis, im Schnee. Im Eis, das verloren geht, verschwindet, immer mehr, immer weiter, im Schnee, der nicht mehr liegt, oder immer weniger und kürzer. Das Schneedefizit von heute ist potenziell die Sommertrockenheit von 'morgen', sagt die Leiterin für Hydrologie und Klimafolgen in Gebirgsregionen am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung Davos, Manuela Brunner.(6) Die Zahlen sind eindeutig, die Folgen weitreichend und schwerwiegend. Brunner und ihr Team haben in Studien festgestellt, dass die Zahl der Dürren, die durch Schneeschmelzdefizite ausgelöst wurden, zwischen 1994-2017 um 15 Prozent höher war als in den Jahren 1970 bis 1993. Dass sich der Trend so fortsetzt, davon geht sie aus, vor allem, weil die Schneefallgrenze weiter steigt und damit die Menge an im Schnee gespeicherten Wasserreserven sinkt.(7)

Als ich vor einigen Wochen im Gespräch mit einem Biobauern gefragt habe, wie und ob sich etwas davon bemerkbar mache, meinte er, dass etwa seine eigene Quelle in den letzten Jahren vermehrt weniger Wasser führte. Manchmal, meinte er, weiß ich nicht, ob’s sich ausgeht fürs Vieh. Am Hochplateau, auf 1100+ Metern. Mitten in den Alpen.

„Vielleicht ist der Ort noch da“, sagt Jula.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagt Jules und wendet sich zum Gehen. (8)
 
Annika Scheffels' Roman, ist auch eine Geistergeschichte. Julas' im Prolog beschriebene Rückkehr an den See, unter dem ihr Dorf nun verschwunden liegt, ist nicht zuletzt eine Rückkehr an den Ort, an dem Jules, ihr Bruder geblieben ist. Der Roman beginnt mit einem Abschied. Ein Abschied, (...).

Ein Zuviel, das eigentlich alles ist und (...) gegen das kein Hiersein hilft, kein Woanders und kein Garnicht. (9)
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1 Annika Scheffel: Bevor alles verschwindet. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 10f.
2 https://orf.at/stories/3305766/
3 Ebda.
4 https://www.theguardian.com/us-news/2023/feb/18/salt-lake-city-mayor-eri...
https://orf.at/stories/3306913/
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/viel-zu-wenig-schnee-in-d...
7  Ebda.
8  Annika Scheffel: Bevor alles verschwindet. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 11.
9  Ebda.

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