09/06/2023

Lyriker und Ausdauersportler Christoph Szalay schreibt in regelmäßigen Abständen Notizen aus dem Oberen Ennstal.

09/06/2023
©: Ada Hauser

Wie weit die Welt wächst mit jedem Wort, denke ich, bei einer Fahrt übers Hochplateau eines Alpentales, nach einem vormittäglichen Arbeitstermin, den Blick immer wieder in die wilden Wiesen schweifend, die sich an manchen Stellen immer noch finden. Trotz allem, oder allem zum Trotz. Die Begriffe sind unsere (1), heißt es im Band später der Schweizer Autorin Li Mollet, und Du bist ein Wald voller Fichten, du hortest Zuversicht und leuchtest wie Klatschmohn im Kornfeld (2).

Ich möchte immer wieder berührt werden von der Welt (3), lässt sie ein Du sprechen. Eine Welt, in Wundern, wenn man sie lässt. Immer noch. Und das Glauben, oder Hoffen, dass es auch in Zukunft immer noch so sein kann.

Es sind nicht die großen, sondern die kleinen Begegnungen, die mich berühren. Eine Krabbenspinne auf ihrem Weg über die Straße an einem Anstieg, den ich mit dem Rad nehme, vor einigen Wochen etwa. Bin verzückt, verzaubert von ihr. Ihrer Form, ihrer Bewegung, ihrer Farbe. Die Bewegung, Sport, ist stets eine Bewegung nach Innen, nie nach Außen gerichtete Neugier. Die Geschwindigkeit ist schnell und was bleibt, ist die Beschäftigung mit sich selbst, selten mit einem Außen, einer Umgebung, die einen umgibt. Es ist etwas, das ich lerne, immer mehr, diese unterschiedlichen Aufmerksamkeiten zu teilen, nach Innen und nach Außen. Je langsamer die Bewegung, desto größer wird die Welt. Und manchmal, manchmal treffen sich beide, wie etwa, beim Entdecken der Krabbenspinne, das erst in der langsamen Bewegung bergan möglich wird. Ich bleibe stehen und folge ihr. Zunächst mit dem Blick, später in sanften Berührungen am Hinterleib. Dies, aus Angst, es könnte sie ein Auto überfahren auf ihrem Weg. Spinnen tragen ihr Herz am Rücken, nehmen die Welt in Schwingungen wahr. Nach einiger Zeit gelangt sie ans gegenüberliegende Grasufer und ich werde ruhig, sie in Sicherheit zu wissen. Der Blick wandert weiter über einen schwarzen Schnegel, einen Käfer, den ich nicht näher bestimmen kann und eine Wolfsspinne, etwas weiter im Gras wartend. Es ist eine ganze Welt, die sich in diesem kleinen Ausschnitt öffnet und sie öffnet sich in und erst durch Neugierde, durch Zeit, durch Ruhe. Vor allem aber durch Sprache, dadurch, Wörter zu haben.

With words at your disposal, you can see more clearly. Finding the words is another step in learning to see (4), schreibt Robin Wall Kimmerer in ihrer Ode an das Moos, dieser scheinbar unscheinbaren und -bemerkten Pflanze. Rund 16 000 Arten sind bekannt, deren Ursprünge 400-450 Millionen Jahre zurückreichen. Kimmerer beschreibt die kindliche Freude ihrer Studierenden, wenn sie sich die Namen der unterschiedlichen Arten in Spaziergängen aneignen, die Gemeinschaft, die sich herstellt, die Welt:en, die sich aufmacht und -machen, die Intimität mit und zur Landschaft, die sich neu und anders, die sich tiefer formiert und formuliert. Looking at moss adds a depth and intimacy to knowing the forest (5).

Und es ist der Verlust, der schmerzt. Der Verlust der Räume für diese Begegnungen. Ein Verlust der Räume, dem nicht zuletzt auch ein Verlust der Sprache zugrunde liegt. Es ist die Sprache, es sind Wörter, die einen Bezug zur Welt herstellen, eine Beziehung. Fehlt die Sprache, fehlen die Wörter, fehlt auch jeder Bezug. Selten wird dieser Verlust so offensichtlich, wie in den Alpen. Die Landschaften bieten 35 000 Tier- und Pflanzenarten ein Zuhause, nur die allerwenigsten davon können von den allermeisten benannt werden. Stattdessen erfüllen die Landschaften und das Leben darin eine Funktion für die, die kommen, um auszuspannen, ebenso wie für einen großen Teil jener, für die die Alpen der Lebensmittelpunkt sind – als Piste, als Berg, als Erlebnis, als Hashtag auf Instagram.

Die meisten Tiere beachtet man nicht. Wir haben überhaupt keine Idee davon, was rund um uns herum lebt (6), sagt Christian Komposch, einer der leitenden Forscher des Projektes zur Bestandsaufnahme gefährdeter Tierarten in Kärnten. Dass das Ergebnis erschütternd ist – 49 Prozent aller Tierarten im südlichen Bundesland haben eine erhöhte Aussterbewahrscheinlichkeit – ist ebenso erwart-, wie dennoch unfassbar, im Sinne einer Unmöglichkeit, es zu begreifen, begreifen zu wollen. Es fehlt an Begriffen und Bezug, oder, wie etwa die Botanikerin Luise Ehrendorfer meint, „Wenn man heute von Blumenwiesen redet, meint man meist solche Blühstreifen.“ Der allgemeine Sprachgebrauch habe sich vom wissenschaftlichen Begriff weitgehend entkoppelt. Verdeutlicht wird dieser Umstand bei der Suche nach Bildern im Internet, die als Blumenwiese beschlagwortet sind. (7) Auch in der Nähe, lässt sich diese Diskrepanz nachvollziehen. In einem Ort hier in der Region, der seinen Namen vom Moos bekommen hat, den großflächigen Moospolstern, die ihn bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts überzogen haben und mittlerweile fast zur Gänze Acker- und Bauflächen gewichen sind. Eine der ersten Internettreffer zum Begriff Moospolster lässt einen mit einem Blick auf Moos als Designobjekt zurück, zur Verzierung der eigenen, oder von Hotelräumen. Mögen Sie es eher ruhig und harmonisch? Dann entscheiden Sie sich für eine Wandverkleidung aus Pflanzenmoos und Dschungelmoos, aus einer Kombination von Kugelmoos sowie vereinzelt gesetzte Farne, Gräser, Eukalyptus und weiteren Blattwerk wie Klebsamen, Zypergrus oder Fuchsschwanz. Zusätzliche Akzente können durch Rinde, Äste oder Steine gesetzt werden. So entsteht Ihr eigener kleiner Waldboden, der Ruhe ausstrahlt und mit seiner grünen Farbe zusätzlich beruhigend auf Seele und Geist wirkt. (8) Natur als Nippes, als Dekoration steht am Ende des Verlusts von Sprache. Die Wege zu einer Umkehrung sind markiert und formuliert, sie müssen gegangen werden.

In indigenous ways of knowing, all beings are recognized as non-human persons, and all have their own names. It is a sign of respect to call a being by its name, and a sign of disrespect to ignore it. Words and names are the ways we humans build relationship, not only with each other, but also with plants (9), heißt es bei Wall Kimmerer weiter und es sind Formulierungen wie diese, Menschen wie sie, ihre Genauig- und Zärtlichkeiten in der Begegnung und Beobachtung, die mich berühren, die mich tragen, die meine Welt wachsen lassen. Trotz allem. Oder allem zum Trotz.

______Quellen

1.  Li Mollet: später. Klagenfurt, Graz & Wien: Ritter 2023, o.A.
2.  Ebda
3.  Ebda.
4.  Robin Wall Kimmerer: Gathering Moss. London: Penguin Books 2021 (Erstveröffentlichung: Oregon University Press 2003), S. 13.
5.  Ebda, S. 13.
6.  https://kaernten.orf.at/stories/3208205/
7.  https://topos.orf.at/Artenvielfalt_Blumenwiese100
8.  https://moosmoosmanufaktur.at/mooswand/?gclid=CjwKCAjw-IWkBhBTEiwA2exyO_...
9.  Kimmerer: Moss, S. 13.

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