Isabella Marboe (IM): „Du hast deinen Vortrag bei der interventa Hallstatt 2024 mit einem fröhlichen ,Servus, Hallstatt!‘ begonnen. Wann warst du zum ersten Mal da?“
Anna Heringer (AN): „Das erste Semester beim Architekturstudium an der Kunstuniversität Linz hat immer mit einem Aufmaß von Altbauten begonnen, damit man versteht, was die Basis unserer Baukultur ist. Im zweiten Semester musste man aufgrund dessen einen Entwurf machen. Im ganzen ersten Jahr bekam ich vermittelt, dass ich für Architektur ungeeignet bin. Kurz vor der Abgabe fragte mein Professor, ob ich wirklich präsentieren wolle. Ich tat das trotzdem und es wurde gut. Das zeigte mir, dass ich doch am richtigen Pfad war.“
IM: „Zum ersten Mal bin ich dir 2007 beim TURN ON Festival von Margit Ulama begegnet. Du hast dort – am 8. März, dem Welttag der Frau – einen Vortrag zu deiner METI school gehalten, warst bunt angezogen, freundlich, nicht arrogant. Ganz anders als die üblichen Architekten. 1997 hast du ein freiwilliges Jahr in Rudrapur in Bangladesch gemacht. Das hat dein Leben verändert. Später hast du auch dort gebaut. Kannst du davon etwas mehr erzählen?“
AH: „Es hat alle meine Vorurteile über Bord geworfen. Ich dachte, wenn ich in ein armes Land fahre, gibt es dort keine Schönheit. Armut bedeutete für mich Hässlichkeit. Und dann war es gar nicht so. Schönheit braucht Achtsamkeit, Sorgfalt und einen liebevollen Umgang. Es hat mit Geld überhaupt nichts zu tun. Das war ein totaler Augenöffner.“
IM: „Wir reden hier ja viel über Region. Was du sagst – dieses Wissen um das Handwerk und diese Selbstständigkeit – gilt für ländliche Gegenden, aber nicht für Slums.“
AH: „Ich bin ja sehr gern im ländlichen Raum, weil viele Probleme im kleineren Kontext noch besser zu lösen sind. In diesem ,small is beautiful’ steckt viel drinnen. Nichtsdestotrotz müssen wir uns auch um die Städte kümmern. Ich glaube an die Kraft ländlicher Entwicklung. Nicht im Sinne von Zersiedelung, sondern im Sinne von Leopold Kohr, der den alternativen Nobelpreis bekommen und die Lehre vom richtigen Maß entwickelt hat.“
IM: „Was war deine Motivation, als Zwanzigjährige nach Rudrapur zu gehen?“
AH: „Ich arbeitete damals im ,Eine Welt-Kreis’ mit, in unserer Familie war ein Onkel in Chile, ein anderer in Brasilien auf Entwicklungshilfe. Ich wollte wissen, wie ein Leben aus einer anderen Perspektive aussieht und in einen Ort wirklich eintauchen.“
IM: „Normalerweise will man für drei Wochen wohin, aber du bist ein Jahr geblieben.“
AH: „Das war verrückt. Es war noch vor der E-Mail-Zeit. Ich hatte einen Brief hingeschickt, aber nie eine Antwort bekommen. Über die deutsche Organisation erfuhr ich, dass ich abgeholt werde. Damals gab es nicht einmal einen Stadtplan von Dhaka. Und dann stand jemand mit meinem Brief am Flughafen. Ab da hatte ich eine fantastische Zeit.“
IM: „Wie kann man sich einen Alltag im ländlichen Bangladesch vorstellen?“
AH: „Wir hatten einen Pumpbrunnen und Wasser aus Hähnen, wir hatten sogar in den Zimmern Strom. Aber das war extrem unzuverlässig. Es gab keinen einzigen Tag mit durchgehender Stromversorgung. Das war auch schön. Wenn es keinen Strom gab, setzte man sich zusammen und tratschte. Wir haben sehr viel gesungen. Viel mehr konnte man nicht tun. Das war wahnsinnig entschleunigt.“
IM: „Normalerweise hat Entwicklungshilfe nichts mit Architektur zu tun. Da spielt Gestaltung keine Rolle.“
AH: „Das war für mich ein Riesenproblem. Ich hatte diese Leidenschaft für die Entwicklungszusammenarbeit, für die Architektur und die Schönheit. Wenn es in diesem Kontext um das Bauen geht, gab es nur Ingenieurbauten, die auf die Funktion beschränkt waren. Erst durch einen Lehm-Workshop bei Martin Rauch wusste ich später: Das ist der Missing Link zwischen Entwicklungszusammenarbeit, sozialer Gerechtigkeit, dem ökologischen Anliegen und der Gestaltung. Mit dem Lehm kann ich das alles vereinen. Lehm ist im Einklang mit der Natur, die Ärmsten der Ärmsten haben Zugang dazu und man kann damit so bauen, dass es wirklich schön ist. Von dem Moment an wusste ich: Das ist mein Material, das lasse ich jetzt nicht mehr los.“
IM: „Dieser Workshop war vor deiner Diplomarbeit und die Erkenntnis daraus hatte dir gefehlt, um wieder als Bauende nach Bangladesch zu fahren.“
AH: „Genau. Ich änderte 2003 sogar mein Diplomarbeitsthema und hatte Angst, dass der Entwurf dieser Schule nicht akzeptiert wird. Nach Studienende sammelte ich ein Jahr lang Geld, trommelte ein Team zusammen und 2005 konnten wir beginnen zu bauen.“
IM: „Du bist also nach sieben Jahren wieder zurückgekehrt?“
AH: „Ich bin eigentlich jedes Jahr zurückgekehrt, weil ich bei der deutschen Partnerorganisation als Ehrenamtliche mitgearbeitet habe. Als ich einmal mit Studienkollegen dort war, um alle Dörfer zu vermessen, erfuhren wir, dass es eine Schule braucht. So hat sich das entwickelt. Diese sieben Jahre, die ich immer wieder dort war, hat es gebraucht. Ohne Vertrauen hätte ich das nie machen können. Eine Schule aus Bambus und Lehm war kein Wunschtraum der Menschen vor Ort, das haben sie mir zuliebe zugelassen. Ich kann die Sprache, bin immer noch extrem integriert und ein echtes Familienmitglied. Wäre ich einfach von außen gekommen, hätte das alles nie funktioniert.“
IM: „Wie schafft man, Entwicklungshilfe zu leisten, ohne in kolonialistische Denkmuster zu verfallen und die Menschen zu bevormunden? Das ist ja auch immer die Gefahr bei Entwicklungszusammenarbeit.“
AH: „Das ist schwierig. Bei der METI School war die Grundbedingung, dass sie aus Lehm und Bambus gebaut werden muss. Ohne eine gewisse Bevormundung ist das tatsächlich nicht möglich. Die Menschen wollen mit Beton, Stahl, gebrannten Ziegeln und Zementziegeln bauen. Es wird ihnen über die Medien auch permanent vermittelt, dass das, was sie haben, nicht gut genug ist. Lehm und Bambus haben ein schlechtes Image. Es sind ganz laute Stimmen, die diese Botschaft seit Jahrzehnten trommeln. Jede Organisation, die Geld und Wissen hat, bläst in dieses Rohr. Die Leute sollen westliche Baumaterialien kaufen, das gilt als fortschrittlich. Es ist sehr schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Die Menschen sind erst überzeugt, wenn sie ein schönes Gebäude da stehen haben.“
IM: „Das heißt, das Gebäude überzeugt, obwohl es aus Lehm und Bambus ist?“
AH: „Und der Prozess. Vor allem der Prozess. Die Bauarbeiter stehen immer voll und ganz dahinter. Die Leute, die nicht auf der Baustelle und nicht Teil des Prozesses sind, sind wesentlich skeptischer.“
IM: „Man darf den Menschen aber auch ihren Wunsch nach Fortschritt nicht absprechen.“
AH: „Nein, sicher nicht. Entscheidend ist, dass ich hier genauso baue. Wenn ich sagen würde: ,Hier bauen wir mit Lehm, aber zu Hause baue ich mit Beton’, wäre das Ganze etwas anderes. In Afrika baue ich gerade in Ghana Gebäude zur Berufsausbildung für die Salesianer und in Traunstein in Bayern für die Diözese München Freising einen Campus für Nachhaltigkeit, das weltweit eines der ersten ist. Weil es derselbe Bauherr ist, kann man natürlich gut argumentieren. Wir bauen nicht nur im afrikanischen Busch, sondern auch die katholische Kirche in Bayern mit Lehm.“
IM: „Mich interessiert aber auch der Punkt, wo sich die beiden Systeme mischen. Also die rurale Bauweise – in diesem Fall der Lehm – und das westliche Wissen – im Fall von Rudrapur beispielsweise die Statik. Wo liegt die Stärke des Regionalen und wo liegt die Stärke dessen, was von außen dazu kommt? Es geht ja immer um die Mischung.“
AH: „Genau. Es geht immer um Mischung. Deswegen ist es entscheidend, dass man – zumindest teilweise – mit auf der Baustelle ist und beobachtet und viel miteinander probiert und schaut, welche traditionellen Techniken angewandt werden. Kein Mensch schreibt die auf, kein Mensch dokumentiert die, sie sind aber da. Und dann beginnen sich die Leute selbst zu interessieren. Sie erinnern sich an die alte Frau, die vielleicht eine Materialmischung oder eine Rezeptur noch kennt. Da geht man dann gemeinsam hin, schaut, fragt nach und forscht. Die Leute werden zu Detektiven und dann ist auch ein Stolz da. Es gibt aber Dinge, von denen ich weiß, dass Martin Rauch das anders macht. Da kommt das globale Wissen ins Spiel, das nicht verloren gehen darf. Das sollte jedem als Open Source zugänglich sein. Wir fragen uns dann, was in dieser lokalen Situation an diesem Ort am meisten Sinn ergibt und wie man das so kombinieren kann, dass etwas Einzigartiges entsteht, das ein neuer Entwicklungsschritt ist. Wir haben zum Beispiel in Ghana die Lehmfassaden von Transsolar voll Klima-simuliert. Da ist sehr viel High Tech drinnen, aber gebaut haben wir das sehr Low Tech. Da ist kein Werkzeug mehr dabei, weil alles mit der Hand gemacht worden ist.“
IM: „Weil wir hier in Hallstatt sind und du eben gerade in Ghana baust oder in China mit Bambus gebaut hast: Wie geht man vor, wenn man auf die lokalen Traditionen zurückgreifen möchte? Du warst ja nicht überall sieben Jahre wie in Rudrapur. Wie schafft man es, sich dieses Wissen anzueignen?“
AH: „Durch gute Partner. Loyd Zigato, mein Partner in Ghana, ist ein fantastischer Ingenieur. Wobei man sagen muss, wenn du einmal so richtig in eine fremde Kultur eingetaucht bist, ist das wie Fremdsprachen lernen. Es wird immer leichter, je mehr man kann. In Afrika merkt man die Wunden der Kolonialzeit als Europäerin sehr deutlich. Und dann baue ich auch noch mit Lehm. Das ist eine schwierige Kombination. Wir haben schon 2019 mit dem Bau begonnen. Jetzt habe ich langsam das Gefühl, dass ich mich zurechtfinde.
Jedes Projekt ist ein sehr intensiver Austausch, dem man Raum geben muss. Es fordert einen wirklich, aber es ist eine Lernerfahrung, die einen persönlich wachsen lässt und sehr bereichert.“
IM: „Das ist ein wunderbares Schlusswort! Vielen Dank für das Gespräch.“