Angereist wurde klimafreundlich mit der Bahn, und vom ‚Znaimer Viadukt‘ aus zeigt sich auch das schönste Panorama der an den Hängen des Thaya-Tals gelegenen Stadt. Nicht einmal 100 km von Wien entfernt, hat sich die politische Distanz doch deutlich gewandelt. In Habsburgerzeiten quasi ‚Vorstadt‘ von Wien, war die ehemalige Königsstadt im neuen tschechischen Nationalstaat an die Peripherie gerutscht, dann fast hinterm eisernen Vorhang verschwunden und seit dessen Fall wieder in Ausflugsnähe gerückt – dichte Geschichte, abzulesen an den mit Umsicht ausgewählten Stationen der Besichtigungstour.
Den Start machte der Bahnhof, einst wichtiger Halt an der Nordwestbahn zwischen Prag und Wien, ursprünglich an der Grenze zwischen Industrie- und Wohnviertel positioniert. An Stelle des im 2. Weltkrieg zerstörten Bahnhofsgebäudes steht heute ein 1947-52 von Pavel Moravce errichteter modernistischer Bau, der mit seinem geschwungenen Vordach von der Aufbruchsstimmung der Nachkriegsjahre erzählt.
Hier konnte die ORTE-Gruppe die kundige Monika Frecerová kennenlernen. Als Mitherausgeberin einer Publikation zur modernen Architektur in Znaim kennt sie die Stadt wie ihre Westentasche. (Das Buch ist leider nur auf Tschechisch erschienen, kann aber dank Translator-App im Handumdrehen in Deutsch gelesen werden.)
Weiter ging‘s zu den drei Villen der Unternehmerfamilie Weinberger, errichtet im 19. und 20. Jahrhundert. Guten Beziehungen ist es zu verdanken, dass der interessanteste, aktuell als Kindergarten genutzte Bau auch innen besichtigt werden konnte, 1926-28 von Norbert Troller und Armand Weiser gestaltet. Das von Loos’schen Understatement geprägte Interieur steht in reizvollem Kontrast zum zeitgenössisch bunten Kinder-Inventar. Das Personal weiß die architekturhistorisch bedeutsame Umgebung zu schätzen, die Kleinen sind mit dem Garten am glücklichsten.
Die Geschichte vom Haus und seinen Menschen steht paradigmatisch für viele. Vom Schicksal der jüdischen Besitzerfamilie erzählen die Stolpersteine am Eingang. Architekt Troller, der als Ghetto-Zeichner in Theresienstadt war und Auschwitz überlebte, konnte später in Amerika ein umfangreiches Werk realisieren. Das Haus selbst war unter den Nazis enteignet und besetzt, später verstaatlicht und als Internat genutzt worden und steht heute unter Denkmalschutz, was im Alltag einige Herausforderungen mit sich bringt.
Mehr zu diesem Thema erfahren konnten die Exkursionsteilnehmer:innen im Atelier ORA, das aus der Praxis berichtete: Davon wie es ist, nach dem Studium in die Provinz zurückzukehren und sich über kleine doch abwechslungsreiche Bauaufgaben zu freuen. Und eben vom Umgang mit historischer Bausubstanz, den man aus eigener Erfahrung bestens kennt. Wohnen und arbeiten sie doch im historistischen Wohnhaus des Baumeisters Johann Unger, das sie 2012-17 in permanenter Diskussion mit dem Denkmalschutz renovierten. Dort fehle oft Kompetenz und Offenheit, so Jan Hora, einer der drei Partner, bei der Gesetzgebung sieht er Fehlstellen und Unklarheiten, und die Stadt als Ganzes sei eben ziemlich konservativ. Mit kreativem Improvisationsgeschick ließe sich aber dennoch zu guten Lösungen kommen, wovon etwa eine bemerkenswerte Aufstockung in Holz in der Altstadt zeugt. Auf den noch wenig verbreiteten Holzbau setzt das Atelier auch beim Bau eines Weinguts, das gerade in den Startlöchern steht.
Der Umgang mit historischen Altlasten kam auch angesichts neuralgischer Innenstadt-Plätze zur Sprache. Etwa am Marienplatz, wo seit 1953 ein Denkmal der Roten Armee steht, zu dem in früher kommunistischer Begeisterung die Bevölkerung noch durch Spenden beigetragen hatte. In Zeiten des Prager Frühlings gab es Versuche des Denkmalsturzes. 2022 nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine erhielt es neue Aktualität und wurde mit Flaggen behängt. So verdichtet sich die Zeitgeschichte am Kreisverkehr. Unweit davon am Komenský-Platz erzählt der Kopal-Obelisk, vom dynamischen Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen in Znaim, wo bis zum 2. Weltkrieg die Deutschsprachigen zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten. Die deutsche Inschrift war nach dem Februarumsturz 1948 entfernt worden, heute ist sie wieder rekonstruiert und schaut über eine qualitätsvoll als Begegnungszone ausgeführte Platzgestaltung. Am Oberen Platz wiederum erzählte Architekt Štěpán Matějka von den Mühen seines gewonnenen Wettbewerbs. Es geht um den neuen Brunnen, den er in Anspielung auf die Tradition der Königsstadt als minimalistische Krone gestalten wollte. Bürgerproteste und Verschönerungsverein waren dagegen und wollten lieber die frühere barocke Brunnenanlage des Hl. Wenzel wiederauferstehen lassen…
Unterirdisch gibt es in Znaim weniger Diskussionen, aber dafür touristische Untiefen. Ein komplexes Keller- und Tunnelsystem diente ab dem Mittelalter als Lager und Zufluchtsort. 27 km soll das gesamt System lang sein, das in mühevoller Handarbeit in den Fels getrieben wurde. Später waren die meisten Zugänge zugemauert, Gänge hatten unter Bombardierung und Schwerverkehr gelitten und waren vielfach eingestürzt. In den 1970ern mit viel Beton aufwändig saniert, sind sie heute touristisch genutztes Gruselkabinett, Fledermäuse und Folterkammer inklusive. Einziger zeitgenössischer Einbruch in die finsteren Kellergewölbe sind die Beton-Pylonen des Kaufhauses DYJE, das in die Moderne zurückholt.
Der Brünner Architekt Bohuslav Fuchs hatte das Gebäude 1967-1975 auf dem Masarykplatz in starker Anlehnung an Corbusier‘s Villa Savoye errichtet. Der verglaste Stahlbetonbau lässt sich am besten am Fuße des aufsteigenden Platzes erfassen, von wo aus er quasi als Sockel für den spätgotischen Rathausturm dient. In der Bevölkerung ist diese klassische Moderne wenig beliebt, weil sie mit der repressiven Stimmung der 70er Jahre nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in Verbindung gebracht wird. Dabei stammt der Entwurf eigentlich aus der Aufbruchszeit des ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘. Als Teil der geschützten Altstadtzone bleibt das florierende Einkaufszentrum mit Panorama-Café jedenfalls vor Abrissbestrebungen geschützt.
Ebenfalls bemerkenswert ist das Kaufhaus Baťa, 1928-30 von Frantisek Lydie Gahura entworfen. Historische Abbildungen zeigen einen Vorzeigebau funktionalistischer Moderne. Die umlaufenden Fensterbänder mussten jedoch schon ein Jahr nach der Errichtung wegen Protesten der Denkmalschützer zugemauert werden. Besser angenommen wurde das nahe Kaufhaus Kratochwil-Wozelka von Robert Farsky 1930, das einen gelungenen avantgardistischen Ansatz zeigt und sich mit Rundungen, Pilastern und Staffelung respektvoller in den Altbestand einfügt. Alles in allem stehen diese Bauten für die wichtige Rolle der modernen Architektur, die sie für die Stärkung der tschechischen Nationalität nach 1918 spielte.
Zurück in die Gegenwart holte der Gang auf die Burg, wo in einer ehemaligen Brauerei die 2018-2019 von Chybik+Kristof gestaltete Enoteka zur demokratischen Weinverkostung mit Selbstbedienungsautomaten lädt. Die Aussicht reicht über Burgmauern und Weinhänge weit hinunter zur Thaya, wo im Häusergewimmel immer wieder bemerkenswerte Architektur aufblitzt − Ergebnis einer ‚fruchtbaren Konkurrenz‘ und eines ‚gesunden Kräftemessens‘ in der Architekturszene der Stadt, wie es die Expertin formulierte.
Mehr davon gibt’s schon im kommenden Mai, wenn die nächste Znaim-Exkursion u.a. mit besonderen Sportstätten und der speziellen Ausformung des Rondokubismus auf dem Programm steht.