28/11/2023

Platons Höhlengleichnis ist nach gut 2500 Jahren durch die Überwindung der doxa als unhinterfragte Überzeugung auf dem Weg zur episteme, zur Erkenntnis, zum Wissen aktueller denn je, stehen sich doch wahrheitsbeanspruchende Machtblöcke gegenüber, an deren argumentativer Frontlinie der offene Dialog und die Wahrheitsfindung als Zwischenraum im Oppositionssystem überrollt werden.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

28/11/2023

paris, paris

©: Severin Hirsch

„Paradoxerweise ist nichts dogmatischer als eine doxa, dies Ensemble grundlegender Glaubensinhalte, die nicht einmal in Form eines expliziten, seiner selbst bewußten Dogmas affirmiert werden müssen.“ (Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M. 2010. S. 24.)

Im siebenten Buch Platons Politeia/Der Staat, bekannter unter dem Vulgonamen Das Höhlengleichnis, führen Sokrates, Platons Lehrer, und Glaukon (nicht Glaukom – der Grüne Star, nicht unser Vizekanzler, sondern die Augenkrankheit – wie man es treffenderweise vermuten könnte), Platons jüngerer Bruder, einen Diskurs über die Wahrheit, die Wirklichkeit der Dinge und den beschwerlichen Weg dorthin. Sokrates, der wie immer den Dialog und seine wissbegierigen Gesprächspartner (! – tatsächlich fällt mir, bis auf Diotima in Platons Symposion, in dem sie Sokrates in Fragen der Liebeskunst – ! – unterweist, kein platonischer Dialog ein, in den eine weibliche Person eingebunden ist. Es sei denn, Nietzsche, dessen Lieblingsdialog eben zuvor genanntes Symposion war und der mutmaßte, die Wahrheit sei eine Frau, behielte recht, dann wäre die Frau in jedem der Dialoge Platons, in denen es immer um die Suche nach der Wahrheit geht, zumindest indirekt anwesend.) führt, vergleicht die Menschheit mit in einer Höhle gefesselten Menschen, deren Sichtfeld nur eine Höhlenwand beinhaltet, an denen die Schatten von Menschen und Dingen vorbeiziehen. Im Rücken der Gefesselten befindet sich – was für ein Glück! – ein wärmendes Feuer und dazwischen ein Weg, der von den Vorbeiziehenden genutzt wird. Die Knechtschaft hält die Schatten und die Echos der Stimmen in der Höhle für die Wirklichkeit, wenngleich sie sich nur im Konsens eine mehrheitliche Meinung, eine unhinterfragte Überzeugung bilden, was denn wirklich und was wahr sei – im Altgriechischen als doxa bezeichnet. Gelänge es einem der Unwissenden, sich von den Fesseln zu befreien, aufzustehen, umzudrehen und die Menschen mit ihren Gegenständen am Feuer vorbeigehen zu sehen, wäre er erst einmal geblendet vom Licht des Feuers und sähe schmerzverzerrt nur Silhouetten, bis sich die Augen an das Licht des Feuers gewöhnten. Dann aber würde er erkennen, dass die Menschen Gesichtszüge hätten, die Dinge fein gearbeitete Handwerkskunst darstellten und der Weg (der Erkenntnis) noch weiterführte. Verfolgte er ihn, käme er nach draußen, das Spiel der (Ver-) Blendung begänne von vorne. Das Licht der Erkenntnis, die Sonne, das Gute und Schöne, ist grell und nur die wenigsten wagen, ihr ins Antlitz zu blicken und ihrem Blick standzuhalten – schließlich kann das ja auch zu Blindheit führen. „Die Logik der Forschung: das ist eine Verkettung größerer und kleinerer Schwierigkeiten, die einen in jedem Augenblick zum Nachdenken darüber zwingen, was man tut, und die es ermöglichen, immer besser zu wissen, was man sucht, indem sie ansatzweise Antworten liefern, die wieder neue, grundlegendere und klarere Fragen nach sich ziehen.“ (Pierre Bourdieu, Homo academicus. Frankfurt am Main 1992. S.40)

Aus dem Weg der/zur Erkenntnis ergeben sich drei Möglichkeiten. Die erste ist, am Licht zu bleiben, nach Gleichgesinnten zu suchen und den Weg weiterzugehen – die Suche nach Wahrheit, nach fundiertem Wissen, nach der Weisheit, nach Erkenntnis, nach der episteme kann oftmals ein sehr einsamer, widerspruchsvoller und gesellschaftsinkompatibler sein. 
Die zweite Möglichkeit, nennen wir sie vielleicht den messianischen Weg, ist, zurückzukehren und die Menschen im Dunkel der Höhle zu befreien, zu bekehren, ganz undogmatisch zu belehren, sie ans Licht zu führen, sie zu überzeugen versuchen, dass sie einer zweifelhaften Wahrheit, einer dubiosen Wirklichkeit anheimfallen, auch auf die Gefahr hin, als paradox zu erscheinen. Ein Weg, der viel Überzeugungskraft, Überredungskunst, dialogische Fähigkeiten, Kritikfähigkeit und eine hohe Schmerztoleranz erfordert – und die Möglichkeit oder hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns beinhaltet. 
Die dritte und mehrheitlich bevorzugte Möglichkeit ist der Weg des geringsten Widerstands: Einfach in den Schutz der Höhle, die Geborgenheit der Gemeinschaft zurückzukehren, seinen angestammten Platz einzunehmen, Gesehenes, Gehörtes, Erfahrenes unreflektiert zu vergessen, zu verdrängen, vielleicht noch über den Irrsinn eines Außerhalb, eines Außen zu berichten, zu spötteln und in der (selbstkonstruierten) Illusion einer Wirklichkeit, einer Wahrheit verhaftet zu bleiben – und auf keinen Fall den Weg eines konstruktiven Dialogs nach außen, nach außerhalb der Gemeinschaft zu suchen.

Heute würde sich das Höhlengleichnis wohl in privaten Räumen, in Wohnungen, an Stammtischen, auf Politikveranstaltungen ereignen, die Schatten wären einseitige Medien, die Echos sich ständig wiederholende Parolen. Für Differenz, für Unterschiede, für Diversität an Meinungen, Überzeugungen, Weltanschauungen scheint in dieser medial überfluteten Welt kein Platz zu bleiben. Autoritätshörigkeit, weil keine Ruhe herrscht, um sich selbst eine Meinung zu bilden, Angst, durch eine kritische, skeptische Haltung aufzufallen und den Platz in der Gemeinschaft zu verlieren, keine Zeit, sich in der akzelerierenden Geschwindigkeit der technologisch-medial-propagandistischen Weltentwicklung zurechtzufinden und einem Gegenüber, einem Außerhalb zuzuhören, sich Argumente anzuhören, die der eigenen Überzeugung widersprechen. Wir müssen widersprechen lernen, um wieder sprechen zu lernen. Mit einem Außerhalb, einem Gegenüber, dem Fremden, dem Anderen, dem anderen Ich. Die Wahrheit liegt im uneingeschränkten, unaufhörlichen Dialog, weshalb sie auch niemals absolut sein kann. Die Wahrheit liegt zwischen uns. Sie kann uns trennen oder verbinden. Doch wir wollen Sicherheiten wie die Banken bei der Kreditvergabe und keine Vertrauensvorschüsse für eine unsichere Zukunft geben. Wir wollen ein Außerhalb, eine Opposition aufrechterhalten, um uns positionieren zu können und unsere Identität darauf zu konstituieren und zu erhalten. Aus Angst vor Selbst- und Identitätsverlust wählen wir die Sicherheit, die uns direkt in die Unsicherheit(en) der heutigen Welt geführt hat. Eine Welt der Dichotomien, der (ethnischen, kulturellen und ökonomischen) Abgrenzungen, der predigtartigen Monologe, der politischen Dogmen – zugleich eine Welt opponierender Einheiten und Zusammenschlüsse, die allesamt die Wahrheit für sich beanspruchen. Jede/r muss Partei ergreifen, Stellung nehmen können, eine Meinung für und gegen haben. Die Doxa, das Doxische, kann auch toxisch für das Umfeld und die Umwelt sein. „Der Umfang des Feldes der Doxa, also dessen, was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird, ist desto größer, je stabiler die objektiven Strukturen einer jeweiligen Gesellschaftsformation sind und je vollständiger sie sich in den Dispositionen der Handlungssubjekte reproduzieren.“ (Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1979. S. 327.)

Die Doxa und das Dogma haben denselben Ursprung im Altgriechischen: dokein – (als etwas er)scheinen, denken, meinen, dafürhalten, akzeptieren. Die Doxologie ist die Lehre der Herrlichkeit Gottes und als Teil der Liturgie die gebetsabschließende Huldigung Seiner Herrlichkeit in wenigen, wiederkehrenden Formeln. Überschneidungen mit der derzeitigen globalen politischen und medialen Landschaft sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Parallelen dürfen nicht gezogen werden. Die Orthodoxie, der rechte, richtige Glaube, schlummert in jeder auch noch so säkularisierten oder (ver)wissenschaftlich(t)en Gemeinschaft. Sie tickt wie eine Zeitbombe. Das Dogma lautet: Vertraue dem Wissen von (medialen, politischen, religiösen, ökonomischen) Autoritäten, glaube ihrer Meinung, ihrem Urteil, da sie die Doxa als „Überzeugung der Mehrheit“ viel stärker beeinflussen als Du. Der Weg zur Erkenntnis führt nur über sie. Alles andere wäre – als und im Widerspruch zur öffentlichen Meinung – paradox.

„Zuerst muss mit der alltäglichen Sicht der sozialen Welt gebrochen werden. In einem zweiten Schritt muss nun mit dem wissenschaftlichen Objektivismus gebrochen werden, um die alltägliche Sicht wieder einzuführen.“ (Boike Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus. Konstanz 2006. S. 53.)

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+